Freitag, 27. Februar 2009

I: 3.4 Warten auf St. Nimmerlein


„IBM ist verrückt“, kommentierte im Frühjahr 1979 Heinz Nixdorf, der erfolgreichste Computerbauer in der Bundesrepublik, die Ankündigung der IBM 4300. „IBM is confused“, meinte nicht minder kritisch James Trybig, Gründer der kalifornischen Computerfirma Tandem. Und immer wieder, wenn unter IBMern das Gespräch auf die 4300 kam, die Aussage: „Das Pricing ist falsch.“
Der sensationelle Preis der IBM 4300, der allerdings in den folgenden Monaten um etwa sieben Prozent nach oben korrigiert wurde, erhitzte damals die Gemüter. Wettbewerber, die es sich bislang unter dem breiten Preisschirm der IBM gemütlich gemacht hatten, sahen plötzlich ihre alten Felle davonschwimmen. Neue Konkurrenten wie Nixdorf, die gerade den Einstieg in IBMs Rechnermärkte vorbereiteten, vertagten ihre Entscheidungen und warteten erst einmal ab.
„Die IBM 4300 kämpft gegen alles“, klagte 1979 Carlton G. Amdahl, Sohn des legendären Computerbauers Gene Amdahl und damals noch Executive Vice President des IBM-kompatiblen Computergerstellers Magnuson, über das aggressive Pricing der zu jener Zeit brandneuen Computerserie. Er verließ Magnuson und arbeitete bis zum Frühjahr 1984 für seinen Vater in der Trilogy Corp., die von 1980 bis 1984 über 200 Millionen Dollar Risikokapital verbrauchte. Ohne Erfolg. Sohn Carlton warf erneut das Handtuch.
Gene Amdahl, der in den frühen sechziger Jahren als Chefentwickler IBMs legendäre /360 konstruiert hatte und in den siebziger Jahren seinem früheren Arbeitgeber mit der nach ihm benannten Firma Amdahl das Leben im Großrechnermarkt schwer machte, war an seinem dritten Meisterstück gescheitert: einen IBM-kompatiblen Großrechner zu bauen, der denen von Big Blue haushoch überlegen sein sollte. Doch das Auslieferungsdatum wurde von 1984 auzf 1985 auf 1986 und 1987 und schließlich auf den St. Nimmerleinstag verschoben. Gene Amdahl hätte weitere 100 Millionen Dollar Risikokapital benötigt, um sein Werk zu vollenden.
Zurück zu Magnuson- Vier Jahre lang versuchte der kleine PCMer beim Preispoker gegen den Marktführer mitzuhalten. Als dann im Herbst 1982 die IBM die ohnehin schon niedrigen Preise ihrer bis zu 1,5 Millionen Mark teuren Serie 4300 um rund 15 Prozent senkte, gab Magnuson auf: Im März 1983 stellte der kalifornische IBM-Konkurrent Antrag auf Vergleich (Chapter 11).
Einen Monat zuvor hatte bereits ein anderer Wettbewerber seine eigenen, ebenfalls auf den Markt der IBM 4300 zielenden kompatiblen Computer aus der Produktion genommen: National Semiconductor. Der kalifornische Halbleiter-Hersteller vertrieb von nun an über seine Tochtergesellschaft National Advanced Systems nur noch die mit dem IBM-Standard verträglichen Computer des Japaners Hitachi.
Selbst IBMs engagiertester Gegner im Markt für Speicherpreipherie, Storage Technology Corporation aus Boulder, Colorado, musste im Januar 1984 melden, dass sein 1981 gestarteter Versuch, einen kompatiblen Mainframe im 4300-Bereich zu entwickeln, gescheitert war. „Die Entwickler lagen im Plan zurück, so dass wir zu spät in den Markt eingestiegen wären“, kommentierte Firmengründer und Chairman Jesse Aweida seine Entscheidung, die wesentlich bestimmt wurde durch die Ankündigung neuer Rechner in der 4300-Familie im Herbst 1983.
Rund 400 Mitarbeiter musste STC, die 1983 einen Umsatzrückgang von 200 Millionen Dollar auf 886,9 Millionen Dollar verzeichnete, entlassen. Das Projekt galt als zu ehrgeizig. So wollte STC die Rechner auf der Basis von modernen CMOS-Chips entwickeln, denen bei Personal Computern eine riesige Zukunft vorausgesagt wird. Doch statt vor einem Big Business stand die Firma nun vor leeren Kassen. Sie wies im vierten Quartal 1983 einen Verlust von 35,4 Millionen Dollar aus, von denen 27,6 Millionen dem gescheiterten Mainframe-Projekt zuzuschreiben waren.Aweida, der mit Hilfe seiner IBM-kompatiblen Computer aus STC 1988 eine Zehn-Milliarden-Dollar-Firma machen wollte, erlebte dasselbe Schicksal wie ein halbes Jahr später Gene Amdahl. Beide waren zu ehrgeizig. Beide hatten den Faktor Zeit unterschätzt. Der technologische Vorsprung, den sie gegenüber IBM erzielen wollten, sollte so groß sein, dass sie den Marktführer in Preis- und Leistung lange genug ausspielen konnten, um sich in dem Markt zu etablieren. Je mehr sich die Ankündigung verspätete, desto kleiner wurde das Zeitfenster, von dem aus Gene Amdahl ebenso wie Jesse Aweida in die IBM-Welt einsteigen wollten. Am Ende mussten beide resignieren.

Samstag, 21. Februar 2009

I: 3.3 Tombola für einen Computer

Allein durch die Ankündigung dieser Rechnerfamilie holte sich IBM innerhalb weniger Wochen einen Auftragsbestand von rund zehn Milliarden Dollar. Die Nachfrage war derart groß, dass die Vertriebsbeauftragten nur noch telefonisch akquirierten. Die Klingel-Methode hatte Erfolg: 42.000 Letters on Intent (Absichtserklärungen) wurden bis Mitte 1979 weltweit von den Kunden abgegeben. Vertriebschef "C. Schulz-Wolfgramm sieht in der Überbuchung die Akzeptanz dessen, was die IBM über Datenverarbeitung zu sagen hat", schrieb damals der interne Mitteilungsdienst "DV-Informationen", aus denen die IBM-Vertriebsbeauftragten ihr Herschaftswissen beziehen. Wer eines dieser neuen Systeme (Kaufpreis zwischen 150.000 DM und 1,5 Millionen DM) bei IBM bestellte, musste mit Wartezeiten bis zu 24 Monaten rechnen. In der Stuttgarter Liederhalle veranstaltete die IBM eine Tombola, bei der in einem Losverfahren festgestellt wurde, welche Anwender als erste in den Genuss der neuen Serie kommen sollten.
"Die erste wirklich neue Generation IBM-Hardware seit neun Jahren", begrüßte das US-Magazin "Fortune" damals die neue Serie. Noch weiter in die Vergangenheit zurück ging die "New York Times". Für sie war die IBM 4300 "die erste neue Computergeneration seit 15 Jahren".
Allein in der Bundesrepublik absolvierte das extra für die 4300 gegründete "Komptenz-Center München" in den ersten 140 Tagen nach der Ankündigung 250 Kundenveranstaltungen, zu denen rund 1500 Teilnehmer kamen. "Ein Novum in der DV-Geschichte: Hard- und Software waren schon am Tage der Ankündigung einsatzbereit", prahlte die IBM-interne Branchenpublikation "DV-Informationen" mit der Erstinstallation einer 4331. Im Oktober war dann eine 4341 im "Kompetenz-Center" verfügbar.
Bereits am 28. März 1979 - zwei Monate nach der Ankündigung - lief im Werk Mainz die erste seriengefertigte 4331 vom Stabel. Knapp neun Monate später, am 12. Dezmeber, verließen die ersten vier 4341-Rechner die Fabrik. "Einer davon wird an einen deutschen Kunden ausgeliefert, drei gehen in andere europäische Länder", verbreitete das IBM-interne Mitteilungsblatt in seiner letzten Ausgabe des Jahres die frohe Botschaft, die längst den Markt durchdrungen hatte. Schon zur Hannover Messe 1979 meldete IBM intern die Rekordbesucherzahl von 40.000, die "die neuesten DV-Produkte" besichtigen wollten.
Geradezu überschwenglich begrüßte das Wirtschaftsblatt "Forbes" die Superminis, die kaum größer waren als eine Tiefkühltruhe. "Die IBM hat das Computergeschäft zweimal revolutioniert: 1964 mit der Ankündigung der /360, 1979 mit der Computerfamilie 4300."
In der Tat - die IBM 4300 bedeutet eine Revolution.

I: 3.2 Die große Wut

Als Gerd Wagner, Chef von Nixdorfs Compatible Information Systems, am Tag der 4300-Ankündigung in Sunnyvale zu einem Freundschaftsbesuch bei der Amdahl Corp., einem früheren Beteiligungsunternehmen der Paderborner (fünf Prozent bis 1977), weilte, wurde er von dem Announcement mitten in einem Meeting mit Eugene R. White, Chefkaufmann der kalifornischen Technologie-Schmiede, überrascht. Ein Amdahler hatte White einen kleinen Spickzettel mit der Auflösung des seit Monaten währenden Rätselratens um die E-Serie (Codename) zugesteckt. Im Besitz des neuen Herrschaftswissens der IBM veranstaltete Smalltalkmaster White ein Preis-Ausschreiben. "Was kostet die kleinste 4300?" befragte er seinen Gast. "130.000 Dollar" halbierte Wagner den Kaufpreis der /370-138 (Vergleichsmodell der Vorgängerserie), und er lag damit 100prozentig daneben. Denn IBMs etwa gleichstarke 4331 kostete nur 60.000 Dollar.
Niemand hatte einen derartigen Preissturz erwartet. Sie alle hatten sich zu sicher gefühlt in einem Markt, der innerhalb von vier Jahren von Null auf einen Installationsbestand von einer Milliarde Dollar hochgeschnellt war. "In der guten alten Zeit waren die Gewinnmargen lächerlich hoch, und man konnte selbst bei niedrigen Produktionszahlen und schlaffem Management bequem überleben, erinnert such Stephen Ipolito, Gründer und Chef von IPL Systems, dem PCM-Anbieter für die Control Data Corp., die damals den Vertrieb der mittelgroßen IBM-komaptiblens Mainframes in den USA besorgte. QUELLE
IBMs Preisgericht schmeckte außer dem glücklichen Anwender niemandem. Vor allem nicht der Börse. Die Aktienkurse der vollkompatiblen Wettbewerber wie Amdahl, Fujitsu, Itel, Memorex und Storage Technology Corp. (STC) purzelten in den Keller und waren Ende 1979 kaum noch die Hälfte wert. Denn nun erwarteten die Anleger einen ähnlichen Preissturz bei allen anderen PCM-lastigen IBM-Produkten.
IBMs lästigster und von der 4300 in seinen Strategien am stärksten betroffener Konkurrent, Itel. musste bereits im dritten Quartal des Jahren 176 Mio. Dollar Verluste anmelden und beendete das Jahr mit einem Verlust von 444,2 Mio. Dollar. Insgesamt stiegen die Schulden auf 1,3 Milliarden Dollar.
"1979 war ein Jahr voller Tragik und immenser Veränderungen für Itel. Die Auswirkungen dieser Störungen setzten sich 1980 fort. Eine Myriade von Problemen entstand durch den Kollaps im Computergechäft", umschrieb im Geschäftsbericht der neue Chairman James H. Moon.
"Nach der Ankündigung hat unser Management das Auftragsbarometer von der Wand genommen und in den Schrank gesperrt", erinnert sich ein ehemaliger Itel-Mitarbeiter. Nie zuvor war die IBM mit soviel Ungestüm und geballter Aggressivität in einen durch sorgfältig plazierte Gerüchte über ein Jahr lang unter Hoch-Spannung gehaltenen Markt hineingedonnert.
Anstatt noch länger durch Wohlverhalten die Entscheidung des Gerichtes und der Regierung positiv zu beeinflussen, entwickelte die IBM seit 1979 immer mehr Offensivkraft, Wagemut und Angriffslust. Sie trat mit aller Macht die Flucht nach vorne an. Die zehn Jahre lang aufgestaute Wut über den 1969 noch am letzten Tag der Johnson-Regierung angezettelten Kartell-Krieg musste raus. Der Gigant betätigte sich als Entfesselungskünstler, indem er sich elegant von den ihn einschü+chternden Antitrust-Ketten zu befreien suchte. War der Preisverfall bei Großcomputern in den Jahren von 1970 bis 1975 etwa durchschnittlich neun Prozent im Jahr gewesen, so beschleunigte IBM diesen in den folgenden Jahren auf rund 25 Proeznt, analysiert der Branchenbeobachter Robert Djurdjevic. 1979 erreichte der Preiskampf seinen bislang einzigartigen Höhepunkt: der Kunde bekam für jeden investierten Dollar viermal mehr Leistung.
"Die IBM hat sich in den vergangenen drei Jahren aufgeführt, als ob es das Justiz-Ministerium überhaupt nicht geben würde", komentierte im Janiar 1982 der Wall-Street-Analytiker Sanford Garrett von Paine-Webber die Zeit von 1979 bis zur endgültigen Niederschlagung des Antitrust-Prozesses. Doch wenn man anschaut, dann hat sie nichts getan, was den Interessen des Justice Departments widersprechen konnte. "Ich möchte klar herausstellen, dass die Antitrust-Gesetze in den Vereinigten Staaten zumindest von der Theorie her darauf ausgerichtet sind, den Verbraucher zu schützen. Ihre Absicht ist es nicht, die Wettbewerber zu protegieren", stellt Ex-IBMer Stephen Ippolito, Chef des CPU-Mixers IPL, Cambridge, klar. Und ganz im Sinne der Computeranwender war der Billgmacher IBM 4300.


I: 3.1 Der Computerschock

In keinem anderen Zeitraum der EDV-Geschichte waren die Marktchancen für die Wettbewerber so groß wie in den siebziger Jahren, als der amerikanische Antitrust-Prozess den Multi lähmte. Die Gerichtsschranken waren IBMs größte Marktbarrieren. Zehn Jahre lang - von 1969 bis 1979 - wusste der Gigant nicht, wie er sie überwinden sollte. Sein Umsatzwachstum fiel in dieser Zeit kaum höher aus als die Inflationsrate. Es waren durchschnittlich 13 Prozent "Wachstum".
Doch dann kam die Wende.
Trotz des noch immer schwebenden Verfahrens zog sich der Rechnerriese von 1979 an mit steigender Aggressivität aus der Rechts-Affäre, deren gutes Ende er einfach vorwegnahm.
Bereits gegen Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre äußerten immer mehr Insider in den USA die Meinung, dass es niemals zu einem Urteilsspruch im "Methusalem-Prozess" gegen IBM kommen würde.
"Sie hat die besseren Anwälte und mehr Geld als die Regierung, dafür hat diese das Gericht in der Hand", machte bereits 1978 der amerikanische Branchenkenner Philip Dorn darauf aufmerksam, dass der Ausgang des Prozesses einzig und allein von der politischen Entscheidung in Washington abhängig war.
Und selbst IBMs Topmanager John Roberts Opel orakelte 1981 öffentlich: "Der Prozess gehört der Vergangenheit an", sah am 28. Januar 1979 auch Bob Erickson, damals Vizepräsident und Anwalt des kalifornischen IBM-kompatiblen Speicherspezialisten Memorex das Prozessergebnis in erster Linie als ein Politikum.
Einen Tag später, am 29. Januar 1979, schien zumindest IBM zu wissen, wie sich Washington entscheiden würde: Sie kündigte an diesem Tag ihre neuen, mittelgroßen Universalcomputer vom Tyxp IBM 4300 an. Diese Serie wie gegenüber den Vorgängermodellen ein sensationelles, um den Faktor 4 verbessertes Preis-/Leistungsverhältnis aus.
Die Ankündigung schlug bei den Wettbewerbern wie eine Bombe ein. "Das ist ein Langzeitprodukt", spekulierte einen Tag nach der Ankündigung Gary B. Friedman, Firmengründer von Itel, dem damals aggressivsten Wettbewerber der IBM im kompatiblen Computermarkt.
Er ahnte gar nicht, wie recht er hatte.
Die 4300 überdauerte nicht nur sein Unternehmen, das bereits 1979 zusammenbrach (und sich 1983 fernab von allen Computeraktivitäten wieder zurückmeldete), sondern drängte eine Fülle weiterer Wettbewerbern - von der Philips-Beteiligung Two-PI über Nanodata bis hin zu Magnuson und IPL Systems Inc. an den Rand des Ruins. IPL, an der der Italiener Olivetti beteiligt ist, machte 1983 zehn Mio. Dollar Umsatz und 4,2 Mio. Dollar Verlust.
Geschockt von dem Announcement verzichteten andere, potentielle Hersteller auf den für 1979 projektierten Einstieg ins PCM-Geschäft. "Wir haben es gecanceld", meinte Edward Faris, Chef der Computer-Division von Electronic Memories & Magnetics Corp. (EM&M), damals ein aggressiver Speichermixer im IBM-Markt. "Wir sind davon überteugt, dass dies langfristig kein großer Markt mehr sein wird. Das galt zumindest für die PCMs, die Plug Compatible Manufacturers.
"Eigentlich sind wir die einzigen Hersteller, die wirklich erfolgreich im 4300-kompatiblen Geschäft sind", meint Gerd Wagner, Gründer von Nixdorfs Compatible Information Systems (CIS) in München, die im April 1984 über 400 ihrer IBM-kompatiblen 8890-Rechner unter Vertrag hatte, wobei Nixdorf im Gegensatz zu allen anderen Wettbewerbern nichts IBMs Betriebssystem (DOS/VSE) einsetzt, sondern sehr erfolgreich eigene, kompatible Betriebssoftware (NIDOS).

I: 3.0 Der Befreiungsschlag

Herausgefordert durch den erbarmungslosen Siegszug der Japaner begann IBM 1979 mit der Eröffnung einen beispiellosen Gegenoffensive. Sie kündigte die Rechnerserie 4300 an, die sehr schnell den Computermarkt auf den Kopf stellte. Es war der erste mächtige Befreiungsschlag, mit der der Computerriese die Umklammerung durch das Antitrustverfahren in den USA brechen wollte.

Montag, 2. Februar 2009

Kapitel I: 2.10 Marktherrschaft zwischen Justiz und IBM

Ist IBM der große Verlierer? Hat die EG-Kommission mit dem seit dem 2. August 1984 ausgesetzten und damit wohl auch beendeten Verfahren genau das erreicht, was sie wollte. Wurde IBM in die Knie gezwungen?
Als "anmaßenden Eigentumsenteignung" hatte immerhin im Frühjahr 1984 John Roberts Opel, IBMs Chairman, die Ziele der EG-Kommission bezeichnet und sie gewarnt: Sollten die Kläger mit ihren Vorwürfen durchkommen, würde er sich nicht scheuen, vor den europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu gehen. Das Verfahren, das nur auf einer Verwaltungsklage basierte, werde noch einmal aufgerollt.
IBM musste drohen. Denn die EG-Kläger hatten ein gewaltiges Strafmaß zur Verfügung. Auf der Basis von Artikel 86 der Römischen Verträge konnte IBM theoretisch zur Zahlung von vier Milliarden Dollar gezwungen werden: Das sind zehn Prozent des Umsatzes in 1983.
Als dann die EG-Entscheidung vorgelegt wurde, war von irgendwelchen finanziellen Strafen nicht zu lesen. Und damit hatte auch niemand gerechnet. Mehr noch: IBMs Weste blieb weiß. Die ursprüngliche Beschuldigung, sie würde ihre Marktmacht missbrauchen, wurde mit keinem Wort erwähnt. Im Gegenteil: IBMs Marktmacht wird auf der Basis des Kompromisses noch weiter steigen. Bislang konnte Big Blue nur über Marktanteile Macht ausüben, von nun an hat sie die absolute normative Macht über den Markt, der sich alle Wettbewerber, die bis jetzt noch in irgendeiner Form separatistische Ambitionen hatten, beugen müssen. IBM ist der Souverän.
Die kommenden Jahre werden zeigen, dass der Marktführer als der heimliche Gewinner aus diesem Prozess hervorgehen wird. Und die EG-Kommission wird bei der Rekapitulation des Verfahrens entdecken, dass sie nur einen optischen Sieg erzielte. Es wird als ein moderner Pyrrhus-Sieg in die Geschichte eingehen.
Was sind denn nun die wesentlichen Vereinbarungen dieses Kompromisses?
1. Innerhalb von 120 Tagen nach Ankündigung eines neuen oder der Änderung eines bestehenden Produktes in Europa, das auf der /370-Architektur basiert, wird IBM die Schnittstellen offenlegen.
2. IBM kann diese Vorschrift nicht dadurch umgehen, dass sie ein Produkt oder dessen Änderung zuerst in den USA ankündigt und vier Monate vor Auslieferung und Offenlegung das Announcemenbt nachholt.
3. IBM verpflichtet sich - allerdings ohne Angabe von Zeiträumen - Änderungen innerhalb ihrer Systems Network Architecture rechtzeitig bekannt zu geben.
Auf den ersten Blick mögen diese Bestimmungen als sehr hart erscheinen. Ja, sogar als äußerst fragwürdig.
Erinnern wir uns. Als die EG-Klage 1980 erhoben wurde, hatte IBM die Kommission drauf hingewiesen, dass das, was ihr hier in Europa vorgeworfen wird, auch Gegenstand des damals noch schwebenden Antitrust-Verfahrens in den USA sei. Mit Hinweis auf die europäische Souveränität, sich ihr eigenes Urteil bilden zu dürfen, hatte die EG-Kommission dieses Argument abgeschmettert. Gloeichzeitig sagte sie, dass das, was als Ergebnis des Verfahrens herauskommen werde, auch für die USA gelte. Der Hintergedanke: Durch eine zeitversetzte internationale Ankündigung hätte IBM bequem die gewünschten Offenlegungsfristen umgehen können. Doch mit der in Punkt 2 dargestellten Vereinbarung verhinderte die EG-Kommission dies.
Welch ein Rechtsempfinden! Einerseits ignorierte die EG-Kommission die Arbeiten eines amerikanischen Gerichts, andererseits verlangte sie, dass die von ihr getroffenen Anordnungen weltweit gelten. Das ist schlicht und einfach Rechtsimperialismus. Welche eine Arroganz! Das technologisch angeschlagene Europa wollte auf juristischem Wege das nachholen, was seine Unternehmen am Markt versäumt hatten.
Mit diesem Ansinnen kam die EG-Kommission nun durch. Auf solch einen Kompromiss hatte sich die IBM mit der am 2. August 1984 veröffentlichten Vereinbarung eingelassen. Warum?
Man muss das Papier genau interpretieren, um zu erkennen, dass diese Vereinbarung gerade wegen ihrer weltweiten Bedeutung eine riesige Chance für IBM enthält. Wir werden erst gegen Ende dieser Dekade im vollen Umfang ermessen, welche Auswirkungen dies haben wird.
IBM ist mit diesem Kompromiss erstmals indirekt offiziell und öffentlich von einer politischen Macht als normative Kraft anerkannt worden, wenngleich EG-Kommissar Frans Andriessen dies zu verneinen sucht. Sie fungierte bislang immer nur als eine private Industrienorm, die allein mit marktwirtschaftlichen Mitteln durchgesetzt wird. Jetzt steht hinter ihrer Schnittstellenpolitik ein öfentlicher Auftrag, der gemeinsame Wille einer politischen und einer privaten supranationalen Organisation. IBM wird darauf in Zukunft immer wieder hinweisen. Sie wird diesen Kompromiss voll zu ihrem persönlichen Vorteil auslegen.
Wir werden in den kommenden Jahren erleben, welchen immensen Machtzuwachs der Marktführer daraus kreieren wird. Von nun an ist IBM nicht nur eine Firma, sondern eine private Institution, die mit einem "öffentlichen" Auftrag ausgestattet ist, Mehr noch: Sämltliche Staaten der Europäischen Gemeinschaft stehen hinter dieser Vereinbarung. Mit ihren supra-nationalen Normen kann IBM nun ganz Europa formen.
Dabei hatte es anfangs so ausgesehen, als ob die IBM durch die EG-Kommission in eine gefährliche Defensive gedrückt worden sei, die nur mit einer Niederlage, bestenfalls mit einem Unentschieden enden konnte. IBM stand and der Wand.
Doch wie in den USA wusste sich der Marktherrscher alsbald mit allen Kräften, Kniffs und Konteraktionen gegen die Angriffe zu wehren und fing an, das Tempo des Verfahrens mehr und mehr zu bestimmen.
IBM begann ihre Verteidigung mit den bereits in amerikanischen Prozessen bewährten Methoden: Sie machte daraus zuerst einmal einen Papierkrieg. Sie setzte am 31. August 1981 der tausendseitigen Klageschrift "44 Anwälte und einen zwei Meter hohen Papierstapel entgegen", berichtet ein EG-Mitarbeiter gegenüber der britischen Sonntagszeitung Sunday Times. Das Untentschieden war erreicht.
Jetzt ging sie in die Offensive. Sie versuchte systematisch, die Gegenseite zu demoralisieren, behandelte sie wie kleine Schulbuben, disqualifizierte die Juristen der Gegenseite. Sie erklärte, die Klageschrift für "juristisch mangelhaft". Sie enthalte nicht genügend Daten, um eine entsprechende Antwort zu ermöglichen. Begriffe wie "Marktanteile" seien nicht plausibel dargestellt. Dies hatte sie auch im amerikanischen Antitrustverfahren erfolgreich gerügt. Dann holte sie zu zwei Tiefschlägen aus: Sie bezweifelte einmal, dass dieses Verfahren den Vorschriften entspricht, und zum anderen, dass die Beamten, die die Klage initiiert hatten, überhaupt im Rahmen ihrer Kompetenz gehandelt hätten.
Diese Vorwürfe kamen nicht von Ungefähr. Denn das ganze Gerichtsprozedere war mehr als ungewöhnlich. Im Gegensatz zum 1982 niedergeschlagenen Antitrustprozess der amerikanischen Regierung handelte es sich bei dieser Verwaltungsklage um ein Verfahren, bei dem die Kommission nicht nur die Rolle der untersuchenden Behöre und der Staatsanwaltschaft übernahm, sondern auch gleichzeitig das Gericht und die Richter stellte. Der Hintergrund: Dadurch konnte das Verfahren nur sehr schwer verschleppt werden.
Verärger über diese Rechtslage wollte IBM bereits im Frühjahr 1981 am europäischen Gerichtshof in Luxemburg eine Gegenklage initiieren, die jedoch abgeschmettert wurde. Auch hier die Überlegung: Das Verfahren sollte auf keinen Fall verzögert werden. Doch das war ein Fehler: Denn nun schaltete IBM auch auf Tempo um und setzte die EG unter Zeitdruck. Ein reger Schriftwechsel begann. Zudem kam jetzt der Eindruck auf, dass das Verfahren von selbstherrlichen Beamten geführt wurde, die sich Urteile über etwas anmaßten, dessen Wesen sie gar nicht verstanden.
Das Verfahren blieb also in Brüssel, und IBM änderte ihre Taktik. Sie sann weiter nach neuen Mitteln, wie sie den Prozess gänzlich in ihre Hand bekommen könnte.
Alle erwarteten, das IBM es der EG nun mit gleicher Münze heimzahlen würde. Alsbald kursierten böse Gerüchte in der EDV-Welt. IBM wolle sich aus Europa zurückziehen, falls sie den Prozess verlöre, meinten Insider. Andere behaupteten, dass sich IBM mit Investitionen in Europa zurückhalten werde.
Doch beide Gerüchte waren "gleichermaßen lächerlich", urteilten die aufmerksamen Watcher der Gartner Group. In der Tat - dies konnte nicht die Strategie sein. Denn IBM war längst Gefangene ihres eigenen Erfolgs. Sie macht seit Jahr und Tag ein Viertel ihres Weltumsatzes in Europa. Diesen Markt durfte sie nicht einfach den Japanern überlassen, die sich seit 1978 durch Kooperaionsverträge mit europäischen Unternehmen mehr und mehr in die IBM-Welt eingeschmuggelt hatten und eine ernsthafte Bedrohung für IBM darstellten. Mit einem Rückzug aus Europa hätte sie den Japanern den Markt kampflos überlassen.
Eine Einschränkung der Investitionen wäre noch gefährlicher gewesen: Die europäischen Regierungen hätten den Marktführer unter gewaltigen politischen Druck gesetzt. Man hätte ihn als Ausbeuter Europas geächtet und schließlich vor die Tür gesetzt. Die bislang stets mit schlechtem Gewissen durchgeführte Protektion nationaler Hersteller (Stichwort: EDV-Förderung) wäre plötzlich moralisch voll begründet gewesen.
IBM war viel zu listig für solche Kindereien. Sie tat genau das Gegenteil. Sie verhielt sich europäischer als die Europäer. Sie versuchte die EG-Kommission, die in Wirklichkeit nicht die Interessen europäiscjer Unternehmen, sondern japanischer und amerikanischer Firmen vertrat, ins moralische Abseits zu stellen. Und diese ging ihr in die Falle.
Schon bald stand die EG-Kommission unter einem gewaltigen psychologischem Druck. Sie erkannte, dass sie mit jedem Tag, den das Verfahren dauerte, mehr und mehr an Gesicht verlor. IBM verteilte eine Ohrfeige nach der anderen. Anstatt durch Wohlverhalten zu glänzen, wie man dies vom Angeklagten erwartet, schlug sie erbarmungslos zurück. Hinter vorgehaltener Hand kommentierte ein deutscher IBMer: "Die in Brüssel, das sind doch Amateure."
Und der Ausgang des Verfahrens zeigt, dass die Eurokraten letztlich von der Gnade IBMs abhängig waren. Mit dem Kompromiss, der in Wirklichkeiot gar keiner war, rettete der Gigant das Ansehen der Kläger, die genau wussten, dass sie die von IBM-Chairman John Opel angedrohte Forsetzung des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg verlieren würden.
Trotz der Drohung passte der IBM in Wirklichkeit ein weiteres Verfahren vor dem Luxemburger Gerichtshof nicht ins Konzept, obwohl die Richter der EG-Kommission eine vernichtende Niederlage bereitet hätten. Doch derweil wäre IBM die Zeit davongelaufen. Denn sie hat große Pläne mit Europa, die sich nur verwirklichen lassen, wenn keine Rechtsunsicherheit besteht.
Die Fortsetzung des Verfahrens hätte IBM schaden können bei ihrem Bemühen, sich als eine europäische Firma darzustellen, die sich als integraler Bestandteil des alten Kontinents versteht, die nicht nur die Koexistenz, sondern auch die Kooperation mit europäischen Firmen sucht. Was nützte ihr ein später Sieg vor Gericht, wenn ihr das Verfahren derweil die Durchschlagkraft im Markt nahm?
Also suchte sie einen Kompromiss, der beiden half. Die EG-Kommission musste ihr Gesicht wahren, und IBM vergab sich nichts.
Wer das Ereignis genau analysiert, wird nach einigem Nachdenken erkennen, dass einzig und allein IBM der Sieger ist. Dabei liegt der totale Sieg in dem Kompromiss. Wenn die EG-Kommission das Verfahren sang- und klanglos eingestellt hätte, dann wäre alles so geblieben, wie es war. Jetzt aber kann IBM sagen, dass sie sich gegenüber einer supranationalen Organisation verpflichtet hat, Standards zu erlassen, die allgemein gültig sind.
Auf der Basis der am 2. August 1984 geschlossenen Vereinbarung besitzt das Privatunternehmen IBM zwar indirekt, aber dennoch offiziell das technische Gestaltungsmonopol für 50 Prozent des europäischen Marktes, den sie zwar de facto schon immer beherrschte, doch ohne eine öffentliche Legitimation. Genau die hat sie nun erhalten – ob das die EG-Kommission nun so sehen will oder nicht. Sie hat nun alle Chancen, ihre normative Kraft auf 100 Prozent des Marktes auszudehnen.
Indirekt wurde IBM von der EG-Kommission beauftragt, die europäische Informatikanwendung zu gestalten. Dies ist sicherlich nicht die Absicht der EG-Kommission, doch wird es letztlich darauf hinauslaufen. Durch die Vereinbarung hat der Gigant die Vollmacht erhalten, normativ bis in staatlich geschützte Domänen hinein zu wirken. Denn Gegenstand der Vereinbarung ist auch die Systems Network Architecture (SNA), die bislang nur private Rechnernetze steuert. Mit der Bestimmung, neuen Schnittstellen rechtzeitig bekannt zu geben, haben die Wettbewerber keinen Grund mehr zu verhindern, dass SNA auch ein öffentlicher Standard wird, der von den Postgesellschaften eingeführt wird. (Siehe auch: Die Zerreißprobe) Die britische Fernmeldeorganisation British Telecom hat ohnehin bereits Ende Juli 1984 verkündet, dass sie gemeinsam mit IBM ein Unternehmen plant, das telekommunikative Dienstleistungen auf der Basis von SNA anbieten will.
Dieser Kompromiss wird IBMs Rolle in Europa stärken und die Mitbewerber letzten Endes schwächen. Ihre Abhängigkeit von IBM wird größer. Es wird genau das Gegenteil von dem erreicht, was die Kläger wollten. Statt IBMs Marktmacht einzudämmen, wird diese nun ihren Einfluss massiv ausweiten.