Ist IBM der große Verlierer? Hat die EG-Kommission mit dem seit dem 2. August 1984 ausgesetzten und damit wohl auch beendeten Verfahren genau das erreicht, was sie wollte. Wurde IBM in die Knie gezwungen?
Als "anmaßenden Eigentumsenteignung" hatte immerhin im Frühjahr 1984 John Roberts Opel, IBMs Chairman, die Ziele der EG-Kommission bezeichnet und sie gewarnt: Sollten die Kläger mit ihren Vorwürfen durchkommen, würde er sich nicht scheuen, vor den europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu gehen. Das Verfahren, das nur auf einer Verwaltungsklage basierte, werde noch einmal aufgerollt.
IBM musste drohen. Denn die EG-Kläger hatten ein gewaltiges Strafmaß zur Verfügung. Auf der Basis von Artikel 86 der Römischen Verträge konnte IBM theoretisch zur Zahlung von vier Milliarden Dollar gezwungen werden: Das sind zehn Prozent des Umsatzes in 1983.
Als dann die EG-Entscheidung vorgelegt wurde, war von irgendwelchen finanziellen Strafen nicht zu lesen. Und damit hatte auch niemand gerechnet. Mehr noch: IBMs Weste blieb weiß. Die ursprüngliche Beschuldigung, sie würde ihre Marktmacht missbrauchen, wurde mit keinem Wort erwähnt. Im Gegenteil: IBMs Marktmacht wird auf der Basis des Kompromisses noch weiter steigen. Bislang konnte Big Blue nur über Marktanteile Macht ausüben, von nun an hat sie die absolute normative Macht über den Markt, der sich alle Wettbewerber, die bis jetzt noch in irgendeiner Form separatistische Ambitionen hatten, beugen müssen. IBM ist der Souverän.
Die kommenden Jahre werden zeigen, dass der Marktführer als der heimliche Gewinner aus diesem Prozess hervorgehen wird. Und die EG-Kommission wird bei der Rekapitulation des Verfahrens entdecken, dass sie nur einen optischen Sieg erzielte. Es wird als ein moderner Pyrrhus-Sieg in die Geschichte eingehen.
Was sind denn nun die wesentlichen Vereinbarungen dieses Kompromisses?
1. Innerhalb von 120 Tagen nach Ankündigung eines neuen oder der Änderung eines bestehenden Produktes in Europa, das auf der /370-Architektur basiert, wird IBM die Schnittstellen offenlegen.
2. IBM kann diese Vorschrift nicht dadurch umgehen, dass sie ein Produkt oder dessen Änderung zuerst in den USA ankündigt und vier Monate vor Auslieferung und Offenlegung das Announcemenbt nachholt.
3. IBM verpflichtet sich - allerdings ohne Angabe von Zeiträumen - Änderungen innerhalb ihrer Systems Network Architecture rechtzeitig bekannt zu geben.
Auf den ersten Blick mögen diese Bestimmungen als sehr hart erscheinen. Ja, sogar als äußerst fragwürdig.
Erinnern wir uns. Als die EG-Klage 1980 erhoben wurde, hatte IBM die Kommission drauf hingewiesen, dass das, was ihr hier in Europa vorgeworfen wird, auch Gegenstand des damals noch schwebenden Antitrust-Verfahrens in den USA sei. Mit Hinweis auf die europäische Souveränität, sich ihr eigenes Urteil bilden zu dürfen, hatte die EG-Kommission dieses Argument abgeschmettert. Gloeichzeitig sagte sie, dass das, was als Ergebnis des Verfahrens herauskommen werde, auch für die USA gelte. Der Hintergedanke: Durch eine zeitversetzte internationale Ankündigung hätte IBM bequem die gewünschten Offenlegungsfristen umgehen können. Doch mit der in Punkt 2 dargestellten Vereinbarung verhinderte die EG-Kommission dies.
Welch ein Rechtsempfinden! Einerseits ignorierte die EG-Kommission die Arbeiten eines amerikanischen Gerichts, andererseits verlangte sie, dass die von ihr getroffenen Anordnungen weltweit gelten. Das ist schlicht und einfach Rechtsimperialismus. Welche eine Arroganz! Das technologisch angeschlagene Europa wollte auf juristischem Wege das nachholen, was seine Unternehmen am Markt versäumt hatten.
Mit diesem Ansinnen kam die EG-Kommission nun durch. Auf solch einen Kompromiss hatte sich die IBM mit der am 2. August 1984 veröffentlichten Vereinbarung eingelassen. Warum?
Man muss das Papier genau interpretieren, um zu erkennen, dass diese Vereinbarung gerade wegen ihrer weltweiten Bedeutung eine riesige Chance für IBM enthält. Wir werden erst gegen Ende dieser Dekade im vollen Umfang ermessen, welche Auswirkungen dies haben wird.
IBM ist mit diesem Kompromiss erstmals indirekt offiziell und öffentlich von einer politischen Macht als normative Kraft anerkannt worden, wenngleich EG-Kommissar Frans Andriessen dies zu verneinen sucht. Sie fungierte bislang immer nur als eine private Industrienorm, die allein mit marktwirtschaftlichen Mitteln durchgesetzt wird. Jetzt steht hinter ihrer Schnittstellenpolitik ein öfentlicher Auftrag, der gemeinsame Wille einer politischen und einer privaten supranationalen Organisation. IBM wird darauf in Zukunft immer wieder hinweisen. Sie wird diesen Kompromiss voll zu ihrem persönlichen Vorteil auslegen.
Wir werden in den kommenden Jahren erleben, welchen immensen Machtzuwachs der Marktführer daraus kreieren wird. Von nun an ist IBM nicht nur eine Firma, sondern eine private Institution, die mit einem "öffentlichen" Auftrag ausgestattet ist, Mehr noch: Sämltliche Staaten der Europäischen Gemeinschaft stehen hinter dieser Vereinbarung. Mit ihren supra-nationalen Normen kann IBM nun ganz Europa formen.
Dabei hatte es anfangs so ausgesehen, als ob die IBM durch die EG-Kommission in eine gefährliche Defensive gedrückt worden sei, die nur mit einer Niederlage, bestenfalls mit einem Unentschieden enden konnte. IBM stand and der Wand.
Doch wie in den USA wusste sich der Marktherrscher alsbald mit allen Kräften, Kniffs und Konteraktionen gegen die Angriffe zu wehren und fing an, das Tempo des Verfahrens mehr und mehr zu bestimmen.
IBM begann ihre Verteidigung mit den bereits in amerikanischen Prozessen bewährten Methoden: Sie machte daraus zuerst einmal einen Papierkrieg. Sie setzte am 31. August 1981 der tausendseitigen Klageschrift "44 Anwälte und einen zwei Meter hohen Papierstapel entgegen", berichtet ein EG-Mitarbeiter gegenüber der britischen Sonntagszeitung Sunday Times. Das Untentschieden war erreicht.
Jetzt ging sie in die Offensive. Sie versuchte systematisch, die Gegenseite zu demoralisieren, behandelte sie wie kleine Schulbuben, disqualifizierte die Juristen der Gegenseite. Sie erklärte, die Klageschrift für "juristisch mangelhaft". Sie enthalte nicht genügend Daten, um eine entsprechende Antwort zu ermöglichen. Begriffe wie "Marktanteile" seien nicht plausibel dargestellt. Dies hatte sie auch im amerikanischen Antitrustverfahren erfolgreich gerügt. Dann holte sie zu zwei Tiefschlägen aus: Sie bezweifelte einmal, dass dieses Verfahren den Vorschriften entspricht, und zum anderen, dass die Beamten, die die Klage initiiert hatten, überhaupt im Rahmen ihrer Kompetenz gehandelt hätten.
Diese Vorwürfe kamen nicht von Ungefähr. Denn das ganze Gerichtsprozedere war mehr als ungewöhnlich. Im Gegensatz zum 1982 niedergeschlagenen Antitrustprozess der amerikanischen Regierung handelte es sich bei dieser Verwaltungsklage um ein Verfahren, bei dem die Kommission nicht nur die Rolle der untersuchenden Behöre und der Staatsanwaltschaft übernahm, sondern auch gleichzeitig das Gericht und die Richter stellte. Der Hintergrund: Dadurch konnte das Verfahren nur sehr schwer verschleppt werden.
Verärger über diese Rechtslage wollte IBM bereits im Frühjahr 1981 am europäischen Gerichtshof in Luxemburg eine Gegenklage initiieren, die jedoch abgeschmettert wurde. Auch hier die Überlegung: Das Verfahren sollte auf keinen Fall verzögert werden. Doch das war ein Fehler: Denn nun schaltete IBM auch auf Tempo um und setzte die EG unter Zeitdruck. Ein reger Schriftwechsel begann. Zudem kam jetzt der Eindruck auf, dass das Verfahren von selbstherrlichen Beamten geführt wurde, die sich Urteile über etwas anmaßten, dessen Wesen sie gar nicht verstanden.
Das Verfahren blieb also in Brüssel, und IBM änderte ihre Taktik. Sie sann weiter nach neuen Mitteln, wie sie den Prozess gänzlich in ihre Hand bekommen könnte.
Alle erwarteten, das IBM es der EG nun mit gleicher Münze heimzahlen würde. Alsbald kursierten böse Gerüchte in der EDV-Welt. IBM wolle sich aus Europa zurückziehen, falls sie den Prozess verlöre, meinten Insider. Andere behaupteten, dass sich IBM mit Investitionen in Europa zurückhalten werde.
Doch beide Gerüchte waren "gleichermaßen lächerlich", urteilten die aufmerksamen Watcher der Gartner Group. In der Tat - dies konnte nicht die Strategie sein. Denn IBM war längst Gefangene ihres eigenen Erfolgs. Sie macht seit Jahr und Tag ein Viertel ihres Weltumsatzes in Europa. Diesen Markt durfte sie nicht einfach den Japanern überlassen, die sich seit 1978 durch Kooperaionsverträge mit europäischen Unternehmen mehr und mehr in die IBM-Welt eingeschmuggelt hatten und eine ernsthafte Bedrohung für IBM darstellten. Mit einem Rückzug aus Europa hätte sie den Japanern den Markt kampflos überlassen.
Eine Einschränkung der Investitionen wäre noch gefährlicher gewesen: Die europäischen Regierungen hätten den Marktführer unter gewaltigen politischen Druck gesetzt. Man hätte ihn als Ausbeuter Europas geächtet und schließlich vor die Tür gesetzt. Die bislang stets mit schlechtem Gewissen durchgeführte Protektion nationaler Hersteller (Stichwort: EDV-Förderung) wäre plötzlich moralisch voll begründet gewesen.
IBM war viel zu listig für solche Kindereien. Sie tat genau das Gegenteil. Sie verhielt sich europäischer als die Europäer. Sie versuchte die EG-Kommission, die in Wirklichkeit nicht die Interessen europäiscjer Unternehmen, sondern japanischer und amerikanischer Firmen vertrat, ins moralische Abseits zu stellen. Und diese ging ihr in die Falle.
Schon bald stand die EG-Kommission unter einem gewaltigen psychologischem Druck. Sie erkannte, dass sie mit jedem Tag, den das Verfahren dauerte, mehr und mehr an Gesicht verlor. IBM verteilte eine Ohrfeige nach der anderen. Anstatt durch Wohlverhalten zu glänzen, wie man dies vom Angeklagten erwartet, schlug sie erbarmungslos zurück. Hinter vorgehaltener Hand kommentierte ein deutscher IBMer: "Die in Brüssel, das sind doch Amateure."
Und der Ausgang des Verfahrens zeigt, dass die Eurokraten letztlich von der Gnade IBMs abhängig waren. Mit dem Kompromiss, der in Wirklichkeiot gar keiner war, rettete der Gigant das Ansehen der Kläger, die genau wussten, dass sie die von IBM-Chairman John Opel angedrohte Forsetzung des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg verlieren würden.
Trotz der Drohung passte der IBM in Wirklichkeit ein weiteres Verfahren vor dem Luxemburger Gerichtshof nicht ins Konzept, obwohl die Richter der EG-Kommission eine vernichtende Niederlage bereitet hätten. Doch derweil wäre IBM die Zeit davongelaufen. Denn sie hat große Pläne mit Europa, die sich nur verwirklichen lassen, wenn keine Rechtsunsicherheit besteht.
Die Fortsetzung des Verfahrens hätte IBM schaden können bei ihrem Bemühen, sich als eine europäische Firma darzustellen, die sich als integraler Bestandteil des alten Kontinents versteht, die nicht nur die Koexistenz, sondern auch die Kooperation mit europäischen Firmen sucht. Was nützte ihr ein später Sieg vor Gericht, wenn ihr das Verfahren derweil die Durchschlagkraft im Markt nahm?
Also suchte sie einen Kompromiss, der beiden half. Die EG-Kommission musste ihr Gesicht wahren, und IBM vergab sich nichts.
Wer das Ereignis genau analysiert, wird nach einigem Nachdenken erkennen, dass einzig und allein IBM der Sieger ist. Dabei liegt der totale Sieg in dem Kompromiss. Wenn die EG-Kommission das Verfahren sang- und klanglos eingestellt hätte, dann wäre alles so geblieben, wie es war. Jetzt aber kann IBM sagen, dass sie sich gegenüber einer supranationalen Organisation verpflichtet hat, Standards zu erlassen, die allgemein gültig sind.
Auf der Basis der am 2. August 1984 geschlossenen Vereinbarung besitzt das Privatunternehmen IBM zwar indirekt, aber dennoch offiziell das technische Gestaltungsmonopol für 50 Prozent des europäischen Marktes, den sie zwar de facto schon immer beherrschte, doch ohne eine öffentliche Legitimation. Genau die hat sie nun erhalten – ob das die EG-Kommission nun so sehen will oder nicht. Sie hat nun alle Chancen, ihre normative Kraft auf 100 Prozent des Marktes auszudehnen.
Indirekt wurde IBM von der EG-Kommission beauftragt, die europäische Informatikanwendung zu gestalten. Dies ist sicherlich nicht die Absicht der EG-Kommission, doch wird es letztlich darauf hinauslaufen. Durch die Vereinbarung hat der Gigant die Vollmacht erhalten, normativ bis in staatlich geschützte Domänen hinein zu wirken. Denn Gegenstand der Vereinbarung ist auch die Systems Network Architecture (SNA), die bislang nur private Rechnernetze steuert. Mit der Bestimmung, neuen Schnittstellen rechtzeitig bekannt zu geben, haben die Wettbewerber keinen Grund mehr zu verhindern, dass SNA auch ein öffentlicher Standard wird, der von den Postgesellschaften eingeführt wird. (Siehe auch: Die Zerreißprobe) Die britische Fernmeldeorganisation British Telecom hat ohnehin bereits Ende Juli 1984 verkündet, dass sie gemeinsam mit IBM ein Unternehmen plant, das telekommunikative Dienstleistungen auf der Basis von SNA anbieten will.
Dieser Kompromiss wird IBMs Rolle in Europa stärken und die Mitbewerber letzten Endes schwächen. Ihre Abhängigkeit von IBM wird größer. Es wird genau das Gegenteil von dem erreicht, was die Kläger wollten. Statt IBMs Marktmacht einzudämmen, wird diese nun ihren Einfluss massiv ausweiten.
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