Sonntag, 2. Januar 2011

I: 4.6 Aufbruch der Giganten (Teil 2)

Druck entsteht aber nicht nur bei den Netzbetreibern, sondern vielmehr bei den Amtsbaufirmen. Sie wissen, dass die einzelstaatlichen Märkte in Europa trotz des riesigen Potentials mittlerweile viel zu klein sind, um angesichts ihrer vielfältigen Betätigungsfelder als Basis für die angestrebte internationale Wettbewerbsfähigkeit dienen zu können. EG-Kommissar Viscount Etienne Davignon empfahl deshalb bereits 1981 den europäischen Postgesellschaften, ihre bislang isolierten nationalen Märkte zu öffnen und ab 1986 mindestens 10 Prozent des Investitionsvolumens an ausländische Firmen zu vergeben, um somit der europäischen Fernmeldeindustrie den Anschluss an die beiden Supermäcjte Japan und USA zu ermöglichen.
"Die allmähliche Öffnung dieser Märkte ist eine historische Chance, die wir uns auf keinen Fall entgehen lassen dürfen", meint Georges Peberau, Managing Director von CGE. (3) Gleichzeitig wollen die Postgesellschaften bei der Standardisierung der Fernmeldewelten enger zusammenarbeiten. Gerade bei diesen Bemühungen haben sie Schützenhilfe auch von den Regierungen, die - so der damalige französische Wirtschaftsminister und heutige Minitsrepräsident Laurent Fabius - dies mit "einem absolut definitiven politischen Nachdruck" forcieren wollen. (4)
Dabei lassen vor allem die Franzosen keinen Zweifel daran, dass dies eine Allianz gegen AT&T sei, aber auch - in erheblich abgemildeterer Form - gegen IBM. "Wenn es um Europa geht, entwickelt sich Frankreich mehr und mehr zur treiben Kraft", sieht der Branchenbeobachter Klaus Sabirowsky bei den deutschen Nachbarn den stärksten Gemeinschaftswillen.
So sucht der Olivetti-Kleinaktionär CIT-Alcatel (10 Prozent) mit aller Macht die Zusammenarbeit mit dem italienischen Telefonmonopol STET, mit dem bereits AT&T erfolglos verhandelte und das stark von OBM umworben wird. Mit dem spanischen Staatskonzern Telefonica wollen die Franzosen ebenfalls zusammenarbeiten. Mit dem Spanier ist ITT seit Jahren im Geschäft, in das sich aber auch AT&T kräftig einmischen will. Und IBM steht ebenfalls als Partner von Telefonica an.
Schön plädieren die Franzosen für eine Zusammenarbeit der Amtsbaufirmen CIT-Alcatel (F), Siemens (D), GEC und Plesse (GB) auf dem Gebite der Forschung und der Vermarktung von digitalen Vermittlungsanlagen, vornehmlich aus zwei Gründen:

1. Die Entwicklungskosten sind zu hoch. Allein für die Digitalisierung der Orts- und Fernvermittlung müssen die nationalen Telefonbaufirmen neue Technologien entwickeln, deren Kosten nach Erkenntnissen der EG-Kommission "je nach Hersteller zwischen 700 und 1,3 Milliarden Dollar" liegen.
Philips, das sich mit AT&T arrangierte, hat ausgerechnet, dass die Entwicklung einer kompletten Familie von digitalen Vermittlungsanlagen sogar rund zwei Milliarden Dollar kosten kann und betrachtet schon deshalb das Arrangement mit dem amerikanischen Telefongiganten als ein "Muss-Geschäft" (Vorstandsvorsitzender Dr. Wisse Dekker).
Zudem haben die Europäer einen großen Nachholbedarf bei der Entwicklung neuer Technologien. So enthalten bereits jetzt die "zweifellos umfangreichen Ausfuhren der Gemeinschaft einen wachsenden Anteil herkömmlichen Materials, das oft im Rahmen von Geschäften geliefert wird, die schon vor mehreren Jahren abgeschlossen wurden", warnt die EG-Kommission vor dem Verlust der Konkurrenzfähigkeit durch Produkte, die "für den Export häufig zu teuer" sind.
So läuft die national-europäische Fernmeldeindustrie Gefahr, die "technischen Veränderungen, die für die Informationstechnologien charakteristisch sind, aus einer Position der Schwäche angehen zu müssen" (EG-Kommission). Mit anderen Worten: Die Industrie kann mit dem internationalen, vor allem durch USA und Japan bestimmten technischen Fortschritt nicht mithalten, wo große Inlandsmärkte gemischt mit massiven öffentlichen Aufträgen und Projekten die Innovationskraft bringen. Andererseits tun sich dier Europäer ungemein schwer, allein ihren gewaltigen Inlandsmarkt innerhalb der EG so zu öffnen, um dadurch eine Position der Stärke zu gewinnen.
So bemäkelt Dr. A.E. Pannenborg, Forschungschef bei Philips: "Es ist meine Erfahrung, dass die kulturellen Unterschiede, die Sprachbarrieren und andere Hindernisse innerhalb Europas so groß sind, dass es eine Generation dauern wird, bevor wir den Punkt erreichen, an dem wir in der Lage sind, mit einem Kollegen aus einem anderen Land so zusammenzuarbeiten wie mit einem eigenen Landsmann." (5)

2. Mit dem Eindringen von AT&T-Philips gilt der Markt endgültig als völlig überlaufen. 18 Wetbewerber akquirieren weltweit mit ihrer Digitaltechnik bei den Fernmeldebehörden. Allein in der EG gibt es sechs an den internationalen Märkten und in Europa heftig konkurrierende Systeme:
  • das Elektroniche Wählsystem mit Digitaler Durchwahl (EWSD) von Siemens (Bundesrepublik),
  • das System 12 von International Telephone and Telegraph (Belgien, Bundesrepublik und - nach dem EG-Beitritt - Spanien). ITT ist mit seinem Umsatz von 20,2 Milliarden Dollar der amerikanische Joker im Rennen um die Weltmärkte. Seine digitale Fernmeldetechnologie ist mittlerweile an 16 Länder verkauft.
  • das System X von Plessey, General Electric Corp. (Großbritannien), das bislang wenig erfolgreich im Auslandsgeschäft war. Es gilt als zu ehrgeizig und kostspielig.
  • das System E.10 von CIT-Alcatel, das zunehmend internationale Bedeutung gewinnt und durch eine von der französischen Regierung gewollte Neuordnung des Telekommunikationsgeschäftes
  • das System M.25 von Thomson-CSF (Frankreich), einer bislang nicht sonderlich erfolgreichen Technologie, verdrängt,
  • das System 5ESS von AT&T, das die technologische Basis des im August 1983 von dem amerikanischen Telefonriesen und Philips gegründeten Gemeinschaftsunternehmen stellt und das seit Jahresanfang 1984 international vermarktet wird. Schon kommen erste Aufträge (zum Beispiel Kolumbien) herein.

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